“ Why fit in when you were born to stand out? “
Dr.Seuss
Ich sitze im Esszimmer einer Frau, die ich kaum kenne. Wir haben uns zum Kaffee verabredet, nachdem eine gemeinsame Bekannte uns zusammengeführt hat. Obwohl wir fast nichts voneinander wissen, müssen wir nicht lange nach Gesprächsstoff suchen. Noch bevor ich am Tisch Platz nehme, sind wir im regen Austausch, sodass wir sogar vergessen, unsere Handys in der Nähe zu positionieren. Wir sind nämlich beide in ständiger Alarmbereitschaft. Keine von uns kann mit Sicherheit sagen, ob wir dieses Treffen zu einem Zeitpunkt beenden werden, den wir selber bestimmen.
In der Vergangenheit wurde ich schon abrupt beim Einkaufen, im Wartezimmer, im Café, bei der Arbeit und auch beim Autofahren unterbrochen. Jedes Mal wollte ich am liebsten das Telefon klingeln lassen, wenn auf dem Display der Name des Klassenlehrers meines Sohnes aufleuchtete.
Unsere Kinder haben dieselbe Diagnose. Autismus – Spektrum – Störung, kurz ASS genannt. Wahrscheinlich hast du schon von dieser “ Modediagnose “ gehört, denn es scheint, als würden Betroffene wie Pilze aus dem Boden schiessen. Möglicherweise grösstenteils Menschen, die sich oder ihre Kinder als etwas Besonderes sehen oder Eltern, die nicht so konsequent in ihrer Erziehung durchgreifen, wie man sollte. Wenn du das denkst, rate ich dir, mit dem Lesen dieses Beitrages nicht deine Zeit zu vergeuden.
Die folgenden Zeilen sind sehr persönlich und ehrlich. Sie lassen dich teilhaben am Leben und an einer Reise, die wir als Familie vor ein paar Jahren unfreiwillig angetreten sind und die unterwegs auch heute immer noch schmerzhaft und über die Grenzen hinaus für alle Beteiligten herausfordernd bleibt. Aber mittlerweile eben auch wunderschön, bereichernd und sehr oft mit dem Potenzial für einen ausgewachsenen Lachanfall.
Wir haben diese Diagnose nicht gesucht und bis jetzt habe ich niemanden kennengelernt, der das getan hat, nur damit wir unsere Kinder irgendwo einordnen konnten. Immer wieder hat unser Kind uns unter Tränen gesagt, er wolle so nicht mehr weiterleben. Den Schlüssel für das Fenster, das auf den Carport führt, haben wir sehr gut versteckt, nachdem wir unseren Sohn mehrmals von dort wieder in Sicherheit bringen mussten. Ihn so verzweifelt zu sehen, hat uns das Herz gebrochen. Fast rasend hat uns aber die Tatsache gemacht, dass wir in diesen Situationen keine Anlaufstelle hatten. So wie mich die Ärztin des Notfallzentrums für Kinderpsychiatrie am Telefon abwimmelte, wurde schnell klar, dass es entweder noch akutere Notfälle gab, oder erst etwas passieren musste, damit man ernst genommen wurde.
Während Jahren schickten wir ihn nun jeden Tag für mehrere Stunden in die Schule. Er verbrachte dort im Wachzustand mehr Zeit als zu Hause. Wenn es seine Arbeitsstelle gewesen wäre, hätte er schon vor sehr langer Zeit gekündigt. So aber hatte er keine Wahl. Er war schulpflichtig und wird es noch sehr lange bleiben.
Am Anfang blieb er manchmal einfach irgendwo auf dem Schulweg sitzen, oder er stand am Morgen gar nicht erst auf und zog sich die Decke über den Kopf. Wenn er es bis in die Schule schaffte, flüchtete er nach Hause, sobald es ihm zuviel wurde. Das war und ist bis heute sein sicherer Ort. Was aber auch bedeutete, dass alle angestauten Emotionen hier, oder auch schon auf dem Vorplatz, ungefiltert und in ihrer ganzen Wucht aus ihm herausbrachen. Unkontrolliert, im absoluten Ausnahmezustand gingen Brillen und Tablets zu Bruch. Zerbrochen stand auch ich daneben und konnte nichts anderes tun, als zu beten, dass es schnell vorbei ging. Wenn das Telefon klingelte, hiess das, dass er es nicht mehr bis nach Hause geschafft hatte.
Ich erinnere mich, wie ich nach einem Anruf des Lehrers in die Schule stürmte, die glücklicherweise nicht weit weg von uns zu Hause ist. Ich ging vorbei an den Klassenzimmern, wo wegen der Hitze die Türen und Fenster geöffnet waren. Da sassen sie artig an ihren Pulten, die anderen Schülerinnen und Schüler. Und ich dachte mir verbittert: “ Das kann doch nicht so schwer sein “. Ich war es so leid, ihn immer wieder aus der Toilette zu holen, wo er hin geflüchtet war. Konnte er sich nicht einfach ein bisschen zusammenreissen? Dauernd wurde ich ungefragt aus meinen Tätigkeiten herausgerissen und gestört. Die Welt schien sich nur noch um ihn zu drehen. Wie lange mussten wir noch rund um ihn alle möglichen und unmöglichen Hindernisse aus dem Weg räumen, damit seine Welt in Ordnung war? Und all das mit mässigem Erfolg, denn es war eine “ mission impossible “. Niemals würde uns das in diesem komplexen und undurchschaubaren Konstrukt, das er sich in seinem Kopf aufgebaut hatte und welches er Leben nannte, gelingen. Zudem hatte ich an jenem Tag Geburtstag. Happy Birthday!
Die ganze Wut, die sich fast ins Unermessliche gesteigert hatte, fiel augenblicklich in sich zusammen, als er nach langem Einreden endlich die Türe öffnete. Ich blickte in seine Augen und sah pure Verzweiflung, der Blick eines Tieres, das gewaltsam in die Enge getrieben wurde. Die Augen gerötet von den bitteren Tränen der Scham.
“ Es tut mir leid, Mama. Ich habe es nicht geschafft. “ Ich auch nicht, mein liebes Kind, ich auch nicht. Ich habe es einmal mehr nicht geschafft, deine Bemühungen zu sehen und anzuerkennen. Ich habe einmal mehr vergessen, dass du derjenige bist, der sich am meisten anpassen muss, um zu überleben. Ich habe übersehen, dass du mir zuliebe so viele Dinge über dich ergehen lässt, nur um mir nicht zur Last zu fallen. Und jetzt flossen auch mir die Tränen ungehindert und sie hatten denselben Geschmack von Schuld und Reue. Genauso wenig wie wir, hatte sich dieses Kind das alles ausgesucht, das wurde mir nicht zum ersten Mal bewusst. Aber da waren wir nun mal. Wenn etwas in diesem Moment in mir gewachsen ist, dann die Entschlossenheit, dass es so nicht bleiben würde. Es musste einen Weg für Veränderung geben, das zeigte sich mir in einer Klarheit, wie es nur Ausnahmezustände dieser Art zu Tage bringen. Ich hatte keine Ahnung, wie das ganz praktisch sein würde. Aber dass es so nicht weitergehen konnte, war offensichtlich.
Rückblickend bin ich so dankbar, dass es tatsächlich auch andere Wege gegeben hat, oder in unserem Unterwegssein zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Menschen dazu gestossen sind und uns ein Wegstück begleitet haben. Ich weiss nicht genau, was ich mit diesem Beitrag bewirken möchte. Es ist gut möglich oder sogar höchst wahrscheinlich, dass das Niederschreiben dieser Zeilen eine therapeutische Wirkung auf mich hat . Falls du aber bis hierhin gelesen hast, möchte ich mich bedanken, dass du ehrlich Anteil genommen hast. Vielleicht bist du sogar bereit, einige Schritte mit zu laufen, mit einer Familie in deinem Umfeld, die diese Art von Unterstützung dankbar annehmen wird. Das hilft so viel mehr, als aus der Distanz mit Unverständnis kopfschüttelnd daneben zu stehen.
Das Verdikt “ Modediagnose “ lasse ich dabei nicht mehr gelten. Nach Wikipedia “ wird dieser Begriff häufig abwertend kritisch verwendet. “ Wahrscheinlich mehrheitlich von Menschen, die noch keine persönlichen Berührungspunkte mit dieser Diagnose hatten. Fakt ist, dass hier meistens ein Kind und sein Umfeld extrem herausgefordert wird und alle leiden, wenn sie keine Hilfe erhalten oder nicht kompetent begleitet werden. Fakt ist auch, dass die Erkenntnis alleine, dass diese Autismus-Spektrum-Störung immer häufiger auftritt, uns nicht weiterbringt. Die Frage ist wohl eher, was wir als Gesellschaft im Grossen und Kleinen jetzt damit machen.
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